Die berühmte Dichterin Emily Dickinson wurde von der Nachwelt lange Zeit als verschrobene, einsame alte Jungfer betrachtet. Die Apple TV Serie Dickinson zeichnet stattdessen das Bild einer äußerst lebhaften jungen Frau: genial, unverstanden – und hoffnungslos verliebt in ihre beste Freundin…

Emily Dickinson ist eine der wenigen berühmten weiblichen, amerikanischen Dichterinnen des 19. Jahrhunderts. Sie schrieb tausende Gedichte und steht bis heute in Schulen und Unis auf dem Lehrplan. Auch ich stolperte über ihre Zeilen in Studienzeiten – doch was mir hauptsächlich davon in Erinnerung blieb, war das Porträt einer merkwürdigen Einsiedlerin. Emily Dickinson muss ihr Leben vor allem in ihrem Kopf geführt haben – denn tatsächlich hat sie ihr Zimmer kaum verlassen. 

Emily Dickinson wurde 1830 in Armherst, Massachusetts, als eines von drei Kindern in eine wohlhabende Familie geboren – und in ihrem Elternhaus blieb sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1886. Unverheiratet verbrachte sie ihr Leben hauptsächlich zurückgezogen in ihren eigenen vier Wänden – und schrieb. Von ihren rund 1800 Gedichten wurden nur sieben zu ihren Lebzeiten veröffentlicht.

Wie begeistert man nun die Zuschauer des 21. Jahrhunderts für das Leben dieser Frau, über die man trotz all ihrer Texte so wenig weiß? Apple TV hat sich mit der Serie Dickinson eine ungewöhnliche Thematik ausgesucht – und löst die Aufgabe mit ebenso ungewöhnlichen Kniffen. 

Ein Freigeist gefangen in ihrer Zeit

Zwar malen Umgebung und Kostüme ein passendes Bild des 19. Jahrhunderts – doch die Charaktere bewegen sich darin wie frisch aus der Zukunft hineingestolpert. In Dickinson begrüßt man sich schon mal mit “Yo”. Hier erklingen Pop und Elektro statt Orchestermusik. Und der Tod höchstpersönlich sieht nicht nur aus wie Rapper Whiz Khalifa, er ist es sogar. Zwischen all diesen Brüchen mit dem, was man von einer historisch korrekten Darstellung erwarten würde, überrascht es nicht mehr sehr, dass die eigenwillige Emily (Hailee Steinfeld) direkt in der ersten Episode ein paar leidenschaftliche Küsse mit ihrer besten Freundin Sue (Ella Hunt) teilt.

So merkwürdig modern das alles wirken mag, so realistisch schwierig sind die Umstände für Emily tatsächlich. Ihr Vater vertritt das vorherrschende, konservative Frauenbild und verbietet seiner Tochter, ihre Gedichte zu publizieren. Ihre Mutter sorgt sich nur um Emilys Qualitäten als Hausfrau und potenzielle Ehefrau. Und ihr Bruder verlobt sich ausgerechnet mit Emilys geliebter Sue. Diese wiederum steht als mittellose Frau ohne Familie vor dem Existenzverlust – nur die Ehe bietet Abhilfe. 

Nein, die Zeiten waren nicht rosig für Frauen, ihre Freiheiten äußerst begrenzt und eine lesbische Liebe sowieso nicht vorstellbar. Obgleich Dickinson sich oft humorvoll bis skurril gibt – dazwischen bleibt Platz für Herzschmerz und Drama. 

War Emily Dickinson lesbisch?

Aber Hand aufs Herz: Was ist denn wirklich dran an #EmiSue? War Emily Dickinson etwa lesbisch – oder haben die Autoren sich das bloß ausgedacht, um der Serie ihren besonderen Anstrich zu geben? 

Ob die echte Emily Dickinson lebisch, bisexuell, queer oder doch hetero war, wird niemals eruiert werden können. Sie selbst wird gar nicht in diesen Kategorien gedacht haben – schließlich gab es damals einfach kein anderes Konzept als das der Heterosexualität. Doch wie auch immer man es labeln könnte – das, was Emily Dickinson und Susan Gilbert ganz offensichtlich verband, war Liebe.

Ihre Geschichte ist recht schnell erzählt: Beide lernten sich als Teenager kennen und wurden schnell enge Freundinnen. Dann heiratete Sue Emilys Bruder und zog direkt nebenan ein. Bis zu Emilys Tod blieb sie quasi an ihrer Seite. Ende.

Die harten Fakten über ihre Leben gäben nicht viel her, wären da nicht die vielen, vielen Briefe und Gedichte. Leider wurden sowohl einige von Emilys Briefen als auch so gut wie alle von Sue vernichtet – doch in den verbliebenen von Emily finden sich viele leidenschaftliche Zeilen an Sue. Allein die Masse der Briefe ist ein Indiz – hunderte hat Emily an Sue geschrieben, mehr als an jeden anderen Menschen. Darin Zeilen wie diese: 

“Susie, will you indeed come home next Saturday, and be my own again, and kiss me as you used to? […]

I hope for you so much, and feel so eager for you, feel that I cannot wait, feel that now I must have you — that the expectation once more to see your face again makes me feel hot and feverish, and my heart beats so fast […]”

Das liest sich schon recht offensichtlich – und es gab ja noch viel mehr… wie auch das viel zitierte “Wild Nights”, das so anschaulich in der Serie Dickinson dargestellt wird, und sich übersetzt so liest:

“Wilde Nächte – Wilde Nächte! Wär ich bei dir, wilde Nächte würden unser Elixier! […] Dürft ich doch ankern Heute Nacht – In Dir!“

Wie kann es angesichts solcher Zeilen sein, dass sich dennoch in den Augen der Nachwelt das hartnäckige Bild der einsamen, enthaltsamen Emily gebildet hat?!

Da so gut wie alle ihrer Texte erst nach ihrem Tod publiziert wurden, wurden sie vor der Veröffentlichung von diversen Menschen editiert. Spätere Untersuchungen ergaben, dass in einigen Texten tatsächlich nachträglich Sues Name entfernt wurde. So wurden sowohl Emilys poetisches Werk als auch das Bild, das von ihrer Beziehung zu Sue blieb, manipuliert. 

Ihre Beziehung wurde als ein Beispiel für eine “romantische Freundschaft” zweier Frauen abgetan. In früheren Jahrhunderten galt es als normal, wenn Frauen miteinander eng und durchaus überschwänglich in ihren Sympathiebekundungen füreinander waren. Nur ging man damals wie heute davon aus, dass die Frauen keinen Sex miteinander hatten. Damals dachte man schlicht nicht an die Möglichkeit weiblicher Homosexualität – und heute hat man das Problem, dass es natürlich keine Beweise für ein sexuelles Verhältnis gibt. Wie romantisch bzw. erotisch diese Beziehungen zwischen Frauen tatsächlich waren, wird für immer im Verborgenen bleiben.

So gab es auch in Emilys Fall über all die Jahrzehnte viele Interpretationen, die versuchten, diverse männliche Personen als Fokus von Emilys leidenschaftlichen Gedichten zu entlarven. Nur konnte nie etwas schlüssig bewiesen werden. Heute sind viele Historikerinnen und Historiker der Überzeugung, dass Susan die zentrale romantische Beziehung in Emilys Leben war.

Emily und Sue – eine große, unmögliche Liebe…

Herzzerbrechend schön und surreal zugleich – Sue & Emily (c) Apple TV+

Auch in Dickinson rückt die Beziehung der beiden Frauen immer wieder in den Fokus. Verfangen in den gesellschaftlichen Konventionen und Konzepten ihrer Zeit, der Dreiecksbeziehung mit Emilys Bruder und in ihrem jeweils ganz persönlichen Streben nach einem möglichst zufriedenstellenden Leben, bewegen sich die beiden Frauen wie in einem steten Tanz miteinander… Driften auseinander, nur um sich über den Raum hinweg vielsagende Blicke zu zu werfen, suchen einen möglichen Halt bei jemand anderem, um dann wieder festzustellen, dass nichts an ihre Gefühle füreinander herankommt und finden wieder zueinander wie Magnete – bis der Tanz erneut losgeht.

Direkt in der ersten Episode sagt Emily zu Sue: “Versprich mir, dass du mich immer mehr als ihn lieben wirst.” Und Sue antwortet: “Nun, darüber würde ich mir nicht zu viele Sorgen machen.” …und das beschreibt ihre Beziehung ziemlich perfekt. Sie wissen, sie können niemals zusammen sein, wie ein Liebespaar aus Mann und Frau. Doch Liebe macht keinen Halt vor unmöglichen Verbindungen. Das ist herzzerreißend. Das kann uns an den Rande des Wahnsinns treiben. Doch am Ende bleibt es Liebe… und Liebe bleibt.