Ich bin zufällig über die Blogparade von KreativGedacht mit dem Thema „Leben im Einklang mit sich selbst“ gestoßen und habe mir gleich gedacht: Dazu möchte ich etwas schreiben! “Leben im Einklang mit sich selbst” – ein anspruchsvolles Unterfangen. Je weiter ich im Leben komme, desto mehr habe ich den Eindruck, dass wir alle so viele und verschiedene Klänge in uns tragen, dass wir nie, ohne einmal die Tonarten zu wechseln, im Einklang mit uns selbst sein können. Ich weiß auch gar nicht, ob ich von mir behaupten würde, ganz und gar im Einklang mit mir selbst zu leben. Aber eins weiß ich: Ich bin heute viel mehr bei mir als noch vor ein paar Jahren. Was es brauchte, waren Coming-in und Coming-out.

Ich war lange das absolute Gegenteil von „im Einklang mit mir selbst“ – ich war eher in völliger Disharmonie. Meine innere Stimme sang ein anderes Lied, als meine Instrumente bereit waren zu spielen – welch‘ Kakophonie! Bereits als kleines Mädchen merkte ich, dass ich irgendwie anders tickte, als andere Mädchen um mich herum und auch anders, als ich meinte zu wissen, wie Mädchen sein sollten. Ich mochte keine Kleider, keine Puppen, wollte nie Prinzessin sein. Das ging auch anderen Mädchen so – aber ich glaube, nur wenige waren auch in ihre beste Freundin verliebt und ärgerten sich darüber, dass der blöde Nachbarsjunge wie selbstverständlich behauptete, er und diese Freundin würden heiraten, wenn sie groß sind. Mich ärgerte tierisch, dass ich so eine Behauptung nicht selbst auch aufstellen konnte. Ging einfach nicht. Schließlich war ich ein Mädchen und Mädchen heirateten Jungs und nicht andere Mädchen! Es ist ein leeres Gefühl, wenn man vor solchen Mauern, scheinbar so unverrückbar wie Naturgesetze, steht und weiß, dass man nichts, aber auch gar nichts an ihnen ändern kann. Also was tat ich? Runterspielen, ignorieren, warten auf andere Zeiten.

In meiner Teenager-Zeit wurde das nicht besser. Ich klammerte mich an die Hoffnung, meine früheren Empfindungen für Freundinnen wären rein kindlicher, nicht ernstzunehmender Natur gewesen – aber dann ging es wieder los und eine weibliche Person bereitete mir Herzklopfen. Nahezu panisch versuchte ich, mir romantisches Interesse an Jungs abzuringen – doch es hat nicht geklappt. Erst mit 18 habe ich mir langsam eingestanden, dass ich tatsächlich aller Voraussicht nach schlicht und ergreifend lesbisch bin und wiederum ein Jahr später erst habe ich mich getraut, da auch drüber zu sprechen. So hat es Jahre im Nicht-Einklang mit mir selbst, bis ich zu mir und zu anderen sagen konnte, wie ich eigentlich bin, was ich mag, wen ich mag und wovon ich im Leben tatsächlich träume.

Die lähmende Angst davor, anders zu sein

Warum war ich so voller Furcht? In meinem Fall ist das relativ klar. Weil Homosexualität in der Gesellschaft immer noch nicht als völlig normal angesehen wird und dieser Eindruck Menschen von klein auf durch verschiedenste Leute und Medien so vermittelt wird. Weil mir in meinem Leben lange keinerlei andere Homosexuelle begegnet sind, keine Vorbilder, an denen ich mich hätte orientieren können. Aber auch, weil ich total Angst davor hatte, anders zu sein. Dieses andereLeben führen zu müssen. Womöglich jemand sein zu müssen, auf den Leute mit ihren Fingern zeigen würden: Guckt euch die an, die ist lesbisch, die ist anders.

Eine EU-Studie aus dem Jahr 2013 ergab, dass zwei Drittel der Schwulen und Lesben sich nicht trauen, öffentlich zu ihrer Homosexualität zu stehen. Laut Statistik stehen Einsamkeit und mangelnde Gesprächspartner auf Rang 1 der Problemlage von jungen Schwulen und Lesben. Alles Folgen davon, nicht im Einklang mit sich selbst zu leben – aus Angst. Doch wer seinem eigenen Klang nicht folgt, der wird nie sein ganzes, virtuoses Orchester zum Spielen bringen können. Der wird nie die schönste Symphonie seines Lebens hören! Und das gilt nicht nur für Fragen der Sexualität, sondern kann alle Lebensbereiche betreffen.

Coming-in: Die innere Stimme hören und anerkennen

Schreiben kann beim Weg zum Coming-in und Coming-out helfen.

Mir hat das Schreiben auf dem Weg zum Coming-in und Coming-out geholfen

Ich war jahrelang starr und taub vor Angst. Wie habe ich meine Ängste überwunden? Tja. Sie sind noch immer nicht ganz aus mir raus. Aber Stück für Stück bin ich ihnen entwachsen. Viel geholfen hat mir dabei das Schreiben. Ich habe zahlreiche Tagebücher mit meinen Irrungen und Verwirrungen gefüllt. Täglich berichtete ich mir so selbst von meinen Gefühlen. Oft konnte ich sie nicht richtig in Worte fassen und dennoch hat mir allein der Versuch, dies zu tun, vieles klarer gemacht. Nach dem Schreiben war ich nicht sofort schlauer als vorher – aber spätestens in der Nachschau (es ist echt unterhaltsam, sich seine alten Einträge manchmal durchzulesen…) haben mir die Texte sehr viel über mich verraten. Bis zu dem Punkt, an dem ich quasi schriftlich hatte, wer ich war. Da stand es Schwarz auf Weiß, ich konnte mich nicht mehr davor verstecken. Erst wenn man seine innere Stimme hört, hat man die Möglichkeit, ihr auch zu folgen – und wenn man sie einmal so deutlich hört, wie ich sie nach meinen vielen Tagebucheinträgen hörte, dann kann man sie gar nicht nicht mehr hören.

Coming-out: Der inneren Stimme nach handeln

Also begann ich, ihr zu folgen. Step by Step. Ich las lesbische Bücher, schaute Filme und Serien mit lesbischer Thematik. Ich wagte mich ins Internet und lernte andere Frauen kennen, die auch so waren – ein verdammt wichtiger Schritt, denn er bewies mir, dass ich damit gar nicht allein war. Ich wählte Personen meines Vertrauens und erzählte ihnen, was eigentlich Sache war. Schließlich fand ich auch eine erste Freundin. Und zum ersten Mal nach fast zwei Jahrzehnten auf der Erde lebte ich ein Leben im Einklang mit mir selbst.

Über diese Erfahrung habe ich einen Roman geschrieben. Es kam zunächst einfach so aus mir raus, ich wollte mal etwas anderes schreiben, als in meinen Tagebüchern über meine kleine Welt und doch gleichzeitig genau das thematisieren, was mich dort so lange beschäftigt hatte. So entstand Im Abseits der Lichter, ein Coming-out Roman über ein Mädchen namens Katinka, das ihrem Glück lange selbst im Weg steht, weil sie zu viel Angst davor hat, sich ihre Orientierung einzugestehen. Mittlerweile ist schon der zweite Teil Tanz ins Flutlicht erschienen. Mein Tagebuch ist meinem Blog gewichen – heute schreibe ich online über mein Leben als Lesbe, ich lasse alles raus, was ich früher still und ängstlich nur mit mir selbst geklärt (oder eben nicht geklärt…) habe und kann nur sagen: Das fühlt sich einfach mega gut an!

Jeder braucht sein persönliches Coming-in und Coming-out

Ich vermute mal – jeder, der ein Problem damit hat, im Einklang mit sich selbst zu leben, leidet an Coming-in und/oder Coming-out Problemen. Jeder Mensch muss zunächst selbst verstehen, was in ihm vorgeht, was er will, worauf es ihm ankommt im Leben – jeder Mensch braucht sein individuelles Coming-in. Man findet seine innere Stimme, indem man sich selbst zuhört. Sich beobachtet und reflektiert. Sich selbst schreibt. Und dann gilt es, danach zu leben: Coming-out. Man darf keine Angst davor haben, dass das dazu führen könnte, anders zu sein als andere. Keine Angst davor, dass die innere Stimme zu anders klingt, um im Orchester des Lebens mitzuspielen. Die Wahrheit ist nämlich, dass unterschiedliche Instrumente die Musik erst interessant machen. Wer im Einklang mit sich selbst lebt, spielt seine schönste Melodie.