Stell dir vor, ein Mensch wird vor deinen Augen erschossen – doch plötzlich dreht sich die Zeit zurück. Nun kannst du den Mord noch verhindern – und einiges anderes auch. Wie weit würdest du gehen? Im Videospiel Life is Strange übernimmt der Spieler die Rolle von Max, die die Gabe erhält, die Zeit zurückzudrehen. Doch wie sagt man so schön: Mit großer Macht kommt auch große Verantwortung. Jede Entscheidung, die der Spieler für Max trifft, wirkt sich auf den Verlauf der Story aus – und auf die Schicksale der Charaktere. Auch auf das des Mädchens, das Max liebt…

Nachdem mir Gone Home so gut gefallen hatte, suchte ich bewusst nach weiteren Games mit lesbischer Thematik. Der Fundus ist leider nicht sehr groß. Allerdings stieß ich mit Life is Strange dabei auf ein Spiel, das meine positiven Erfahrungen von Gone Home sogar noch übertroffen hat! Life is Strange ist ein Spiel der französischen Entwickler DONTИOD und erschien in 5 Episoden, die 2015 auf den Markt kamen. Mittlerweile gibt es das Spiel komplett zu kaufen. Die Spieldauer liegt bei ca. 15 Stunden.

Life is strange – und ziemlich komplex

Der Spieler rutscht hier in die Rolle der Max Caulfield. Max ist neue Fotografie-Studentin an der Blackwell Academy in der fiktiven Stadt Arcadia Bay. An einem unscheinbaren Tag wird sie auf der Damentoilette Zeugin eines Mordes – während sie versucht einzugreifen, spult sich die Zeit zurück. Plötzlich kann Max die Zeit zurückdrehen, wie es ihr beliebt. Sie verhindert den Mord und merkt, dass sie damit ihrer besten Freundin aus Kindheitstagen, Chloe, das Leben gerettet hat. Gemeinsam nutzen beide nun Max Fähigkeit, um das Verschwinden einer Mitschülerin aufzuklären…

Soviel zum groben Inhalt – doch die Story ist im Detail noch viel komplexer. Mehrere seltsame Vorkommnisse an der Arcadia Bay Academy gilt es zu klären: Warum hat der reiche Schnösel Nathan versucht, Chloe zu erschießen? Warum ist die sonst so liebe Kate auf einmal depressiv? Was führt der Veteran und Stiefvater Chloes im Schilde, der sich so verdächtig auf dem Campus verhält? All diese Handlungsstränge (und noch mehr, wenn man aufmerksam durch das Spiel geht) ziehen Max und Chloe tiefer hinein in ein großes, böses Spiel im beschaulichen Arcadia Bay. Dabei berührt das Spiel viele sensible Themen. Probleme wie Mobbing (und speziell Cybermobbing), häusliche Gewalt und Drogenkonsum existieren neben manch alltäglichem High School Drama. Dabei gelingt es dem Spiel, eine stimmige Atmosphäre zu schaffen und die Gefühle von Haltlosigkeit, Weltschmerz, Rebellion und auch einem leicht illusorischen Traum von Freiheit, wie sie wohl jeder aus seinen Teenager-Jahren kennt, fühlbar machen. Untermalt wird dieses Erlebnis von einem klasse Soundtrack, den ich mir im übrigen heruntergeladen habe.

Leben mit dem Schmetterlingseffekt –  ein Spiel, das nachdenklich macht

Life is Strange Entscheidung

Welche Entscheidungen wirst du treffen? (c) Square Enix

Ähnlich wie Gone Home ist Life is Strange ein Adventure, in der die Hauptaufgabe des Spielers darin besteht, sich seine Umgebung gut anzusehen – allerdings auch, alles beeinflussende Entscheidungen zu treffen. Der Spieler entscheidet, mit welchen Charakteren Max interagiert und was sie sagt – was zukünftige Ereignisse beeinflusst. Soll sie zum Beispiel Nathan beim Direktor anschwärzen – oder riskiert sie damit, Ärger mit seiner einflussreichen Familie zu bekommen?

Solche Entscheidungsmomente haben mich das ein oder andere Mal ganz schön ins Schwitzen gebracht! Man kann sie unmittelbar nach der Entscheidung wieder zurückspulen, wenn man ins Zweifeln gerät – doch wenn man weitergespielt hat, gibt es kein Zurück mehr dorthin. Dieses Spielprinzip kann dem reflektierten Spieler einiges über ihn selbst verraten. Höre ich auf meine Intuition oder wäge ich rational ab? Warum sehe ich mir mal die Alternative an – und warum bleibe ich mal bei meiner ersten Wahl? Wie auch immer man spielt: Max und Spieler müssen mit dem Schmetterlingseffekt ihrer Handlungen leben: Kleine Abweichungen können ein bestehendes System vollkommen verändern.

Max und Chloe: Die Liebe zweier Mädchen

Liebe: Max und Chloe aus Life is Strange

(c) Square Enix

Am wenigsten schwer fiel mir wohl die Entscheidung, Chloe zu küssen. Ha! Denn der Spieler beeinflusst ebenfalls, wem Max’s romantisches Interesse gilt. Geht sie auf die Avancen von Kumpel Warren ein – oder schlägt ihr Herz doch eher für ihre sexy, blauhaarige Punker-Freundin? Wie gesagt, die Entscheidung ist nicht schwer. Life is Strange bietet also die Möglichkeit, das Spiel in die Richtung einer lesbischen Liebesgeschichte zu spielen. “Pricefield” nennt sich dieses Shipping, das Massen an Fan-Fiction und -Art hervorgerufen hat (wie man zum Beispiel sehen kann, wenn man mal Pricefield bei Tumblr oder auch Google sucht). Doch selbst, wenn der Spieler nicht geneigt ist, die Story so zu gestalten, gibt die Beziehung von Max und Chloe dem Spiel ihren emotionalen Drive. Ich denke, man kann so weit gehen zu sagen: Die Liebe zwischen Max und Chloe, ob sie romantisch oder platonisch angelegt ist, bildet das Zentrum des Spiels – und dreht den Spieler durch die emotionale Mangel.

Fazit: Für mich, lesbisch und Freundin von Storygames, ist Life is Strange das bislang beste Spiel, das ich je gespielt habe. Ich habe noch nie ein Videospiel gespielt, das mich so in seine Welt gezogen und mir die Charaktere so nah gebracht hat. Dies hatte zur Folge, dass ich im Verlauf des Spiels sehr nachdenklich geworden bin. Würde ich Ereignisse meiner Vergangenheit ändern wollen? Was auf der Welt (Liebe? Tod? Schuld?) könnte rechtfertigen, die Vergangenheit zu manipulieren? In Anbetracht von Leben und Sterben – was zählt die Zeit, was zählen Erinnerungen? Was ist Schicksal – und was ist wirklich meine Entscheidung? Life is Strange beinhaltet so viele Ebenen, dass eine Review wie diese kaum ausreicht, um alle anzusprechen. Neben einer spannenden Story konfrontiert Life is Strange den Spieler vor allem mit sich selbst. Zudem wird eine große Liebesgeschichte zwischen zwei Mädchen erzählt. Was bleibt mir noch anderes zu schreiben, als eine klare Aufforderung: Spielt Life is Strange!

PS: Dass Life is Strange über eine großartige Story verfügt, zeigt sich auch darin, dass vor ein paar Tagen bekannt gegeben wurde, dass das Spiel als Serie umgesetzt werden wird: Klick! 

NEWS! Life is Strange bekommt eine Fortsetzung, wie die Macher am 18.Mai 2017 bekannt gaben. ICH KANN ES KAUM ERWARTEN!!! <3

Life is Strange (2015)
Publisher: Square Enix
Genre: Adventure
Spielbar auf: Microsoft Windows, PS3, PS4, Xbox 360, Xbox One, OS X
Preis: 20 – 25 Euro

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!!! SPOILER – NUR WEITERLESEN, WENN DU LIFE IS STRANGE DURCHGESPIELT HAST !!!

Aus lesbischer Sicht ist Life is Strange nach Abschließen des Spiels durchaus zu überdenken.

Ich war  – wie wohl die meisten – vollkommen überfordert bei der letzten Entscheidung des Spiels: Sollte ich noch einmal in die Vergangenheit reisen, Chloe sterben lassen, und damit wohl alle weiteren Übel verhindern? Oder sollte ich Arcadia Bay zerstört werden lassen, um Chloe bei mir zu behalten? Ein Leben für Tausende? Tausende Leben für Eines? Ich habe das Spiel so gespielt, dass alles auf eine romantische Verbindung mit Chloe hinauslief – für mich sind Max und Chloe das Liebespaar des Spiels. So emotional involviert, wie ich dann nun einmal war, konnte ich mich nicht dazu durchringen, Chloe sterben zu lassen. Ich wählte sie, ich nahm in Kauf, dass alle anderen sterben. Was diese Entscheidung jetzt über mich aussagt, sei mal dahin gestellt… Doch was erfahre ich später? Hätte ich Chloe sterben lassen, küssen sich beide. In meinem Ende gibt es lediglich eine Umarmung. Welch seltsame Idee der Spielentwickler, die lesbische Tonalität des Spiels nur offensichtlich zu bestätigen, wenn man den einen Teil des Pärchens sterben lässt. Es gibt also kein klares, lesbisches Happy End. Allerdings gibt es überhaupt kein klares Happy End. Beide Enden beinhalten Verlust, beide tun weh.

Das Ende fühlte sich für mich somit wie ein kleiner Downfall an, was an der Großartigkeit des Spiels allerdings nichts ändert. Ich hätte mir gewünscht, dass es eine Ende-Option gegeben hätte, Chloe zu retten und einen Kuss zu bekommen – einfach, um meinem romantischen Herz die Bestätigung zu geben, dass beide jetzt zusammen glücklich werden. Das Chloe-retten-Ende stützt so lediglich genau so gut die Auslegung ihrer Beziehung als einer platonischen, wenn auch sehr tiefen Freundschaft. OK, ich gebe zu – es macht schon Sinn, nicht in einen leidenschaftlichen Kuss zu verfallen, wenn man gerade dabei zusieht, wie so ungefähr alle Menschen sterben, die man kennt. (So sieht das im übrigen auch Ashley Burch, die Chloe spricht.) Nichtsdestotrotz wirkt das vermeintliche Happy End für Max und Chloe weniger ausgefeilt, als das bittere Ende.

Ich würde ja auf den zweiten Teil hoffen, dessen Entwicklung zwar nicht offiziell bestätigt, aber wahrscheinlich ist – aber vermutlich wird dieser mit anderen Charakteren spielen. Bleibt also nichts weiteres, als auf neue, andere Spiele mit tiefer Story und tollen queeren Charakteren zu warten. Und das Ende zu interpretieren, wie man mag – denn das ist schließlich der Kern von Life is Strange – und vielleicht auch einfach vom Leben an sich: Es kommt darauf an, was du daraus machst. Pricefield forever. 😉