Braucht es heute überhaupt noch ein Coming-out?

Die Situation ist klar: Du hast dich in ein anderes Mädchen verliebt. Langsam dämmert dir, dass du schön öfter für Personen deines eigenen Geschlechts ähnliche Gefühle empfunden hast. Du würdest dich selbst als lesbisch bezeichnen. Nach dem persönlichen Coming-in folgt das Coming-out – aber ist das überhaupt nötig?!

Ich könnte es kurz machen und den Text mit meiner Antwort auf diese Frage beenden: Ja! Aber dann würde kein Blog-Artikel dabei herauskommen… also dröseln wir das Thema doch mal auf.

Wie in Teil 2 dieser Reihe bereits festgestellt, hat die Welt harte Zeiten hinter sich und gerade Frauen – nicht einmal nur die Lesben – mussten einige Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten über sich ergehen lassen. Doch, Gott sei Dank, hat die Welt sich weiter gedreht und wer heute das Glück hat, als Frau im Deutschland des 21. Jahrhunderts zu leben, genießt mit das höchste Maß an Freiheit, das irgendeine Gesellschaft auf Erden seinen weiblichen Mitmenschen gewährt. Wirklich – ich bin heilfroh in diesem Land und zu diesem Zeitpunkt der Weltgeschichte zu leben. Als Lesbe ist es kein allzu großes Problem, Frauen kennenzulernen, die auch auf Frauen stehen und es ist ebenfalls möglich, entspannt und ohne Versteckspiel eine Beziehung zu führen. Es gibt Angebote nur für LGBT-Jugendliche, Filme und Bücher mit homosexuellen Liebesgeschichten und es gibt schwule und lesbische TV-Moderatoren und sogar Politiker. Fast könnte man auf die Idee kommen, es geht uns allen so gut und homosexuelles Leben ist mittlerweile so angekommen in der Gesellschaft – eigentlich bedarf es keinen Coming-outs mehr.

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Ein Coming-out braucht es nicht mehr, wenn es solche Bilder nicht mehr braucht. Noch braucht es sie. (Quelle: Lara Dengs, pixelio.de)

Schließlich ist doch jede Liebe gleichberechtigt und, klammern wir das Thema Ehe für alle einmal aus, muss doch niemand mehr auf eine Angleichung von Rechten aufmerksam machen. Überhaupt ist es doch eigentlich nur nervig, wenn Schwule und Lesben immer noch die Scheinwerfer auf sich richten und allen ihre Sexualität unter die Nase reiben, wie beim Christopher Street Day, gähn! Heteros gehen auch nicht daher und sagen Schaut mich an, ich bin hetero. Warum kann nicht einfach jeder leben, wie er mag – ohne dieses Herumposaune?

So einfach ist das eben nicht.

Ich wurde und werde von neuen Bekanntschaften – insoweit diese sich überhaupt dafür interessieren – immer nur gefragt, ob ich einen Freund hätte. Nicht, ob ich eine Freundin hätte. Allein darin zeigt sich schon, wie heteronormativ das Denken in der Gesellschaft geprägt ist – ein jeder geht zunächst von seinem Gegenüber, als auch von sich selbst, davon aus, dass er heterosexuell ist. Wenn mir diese Frage gestellt wird, erfordert sie zwangläufig ein Coming-out. Die andere Möglichkeit wäre, man verneint und geht nicht näher darauf ein. Habe ich auch schon gemacht. Ich musste allerdings feststellen, dass dies oft zu noch größeren Problemen und Missverständnissen führt… Schwule und Lesben, die nicht in eine Spirale aus Flunkereien und Lügen geraten möchten, müssen sich zwangläufig irgendwann outen.

Die vor kurzem erschienene Studie zum Coming-out zeigt, dass es den meisten LGBT-Jugendlichen noch schwer fällt, sich zu outen. Sie fürchten Ablehnung. Ging mir nicht anders! Ich kannte niemanden Homosexuellen, hatte somit kein Vorbild und keinen Anhaltspunkt, wie mein Umfeld damit umgehen würde. Hinzu kam, dass ich auf einer Mädchenschule war und wenn dort die Sprache auf Lesben kam, war das immer negativ behaftet. Woher kommen Vorurteile? Oftmals aus Unkenntnis und falschen Vorstellungen. Viele Jugendlichen fühlen sich zudem in ihrer Sexualität nicht ernst genommen. Mir sind auch schon Sprüche begegnet à la „Das kann sich ja noch ändern…” – was nur wieder die Heteronormativität in den Köpfen der Menschen entlarvt. Beides – Angst vor Ablehnung und der Frust darüber, nicht ernst genommen zu werden – können eingedämmt werden durch mehr Sichtbarkeit. Je stärker Homosexualität in der Gesellschaft sichtbar ist, desto weniger seltsam finden Menschen sie und desto ernster nehmen sie sie.

Die YouTuberin Melina Sophie hat auf ihrem Kanal ein öffentliches Coming-out vollzogen und sah sich hinterher auch mit der Frage konfrontiert, ob dies überhaupt nötig sei. Ich kann den Mut für ein solches, großes Coming-out nur begrüßen. Sichtbarkeit in den Medien und in der Politik ist wichtig und hilfreich. Aber: Sichtbarkeit beginnt bei jedem Einzelnen. Jedes Coming-out hilft nicht nur demjenigen, der es vollzieht, selbst, sondern auch allen anderen, die noch Angst haben zu sich und ihrer Sexualität zu stehen. Und deswegen: Ja, auch heute braucht es noch einen Coming-out.

 

5 Schritte zum Coming-out: